Text des Monats November

Eule
Ich möchte ein paar Stunden auf einem Ast sitzen und die Berge beobachten.

Die Berge und ich, wir ähneln uns.
Nachts erbarmungslos, kalt und grausam.
Erst wenn die Sonne aufgeht und der Schnee beginnt, silbern zu schimmern, erkennt man die Schönheit, die dieses Terrain zu bieten hat.
Das Leben, welches sich nachts versteckt, sprießt.

Ich bin eine Eule, ein Jäger, ein Beobachter.

Doch auch wenn sich der Morgen zum Tag wandelt und die Nacht mit ihren Gefahren weit weg scheint, sind die Berge keinesfalls einfach zu bewohnen.

Einen Laut, nein, ein Gröhlen kann man vernehmen:
Eine Lawine. Ich kann sie sehen.
Sie begräbt viel Leben unter sich.

Ruhe.
Die Berge haben sich beruhigt.
Sie nehmen und geben.

Ich schnappe mir eine Maus und fliege in die Nacht hinaus.

Tom Ronzheimer

Text inspiriert durch Wilhelm Genazino:
Die Obdachlosigkeit der Fische. München 2004.