Ein Jahr weg von zu Hause – mal andersrum

Studierende der Fachschule für Sozialwesen im Globalen Schulkino

Für Viele, die die Schule abgeschlossen haben, ist es ein To-do oder gar Must-have, ein Jahr im Ausland zu arbeiten und interkulturelle Erfahrungen zu sammeln, entweder als Au-pair, bei Work and Travel oder dem Freiwilligendienst einer gemeinnützigen Organisation. Dabei sind ferne oder exotische Länder besonders attraktiv. Dass sich umgekehrt junge Menschen etwa aus Afrika für ein Jahr nach Deutschland aufmachen, um hier als Freiwillige zu arbeiten (über das Programm weltwärts Süd-Nord-Komponente1), ist weniger bekannt. Dies erfuhren Studierende der Fachschule beim Besuch des Globalen Schulkinos2. Der Marburger Verein Motivés zeigte den Dokumentarfilm „One Year in Germany“ (2018) von Christian Weinert (Regie) und Ferdinand Carrière (Kamera).


Für den Film begleiteten der Regisseur und der Kameramann vier junge Leute aus Afrika ein ganzes Jahr lang. Der Film beginnt in einem Dorf in Tansania. Agnes, so der Name einer der Akteur*innen, erzählt, das sie noch nie in einem Flugzeug gesessen habe. Die Nachbarskinder hätten nur immer in den Himmel gezeigt und den Flieger in der Ferne verschwinden sehen. Es wird deutlich: Agnes steht vor einer großen Herausforderung. Die 25-Jährige hat einen Bachelor in Kommunikationswissenschaften. Von Ihrer Zeit in Europa verspricht sie sich Arbeitserfahrung und bessere Chancen für ihren Job. Ihre Freundinnen können ihre Motivation nicht wirklich nachvollziehen, weil sie für ihre Arbeit in Europa nicht einmal bezahlt wird. Ähnlich geht es Gloria. Sie ist ebenfalls 25 und hat kürzlich ihr Studium in Community Development abgeschlossen. Sie wird in einem Weltladen im Hamburger Norden arbeiten. In den Interviews zeigt sich, das beide Frauen nur eine ungefähre Vorstellung vom Leben in Deutschland haben. Deutsche kennen sie eigentlich nur aus dem Geschichtsunterricht – als Kolonialherren und Völkermörder, eben als „schlechte, weiße Deutsche“. Und dass sie gerade ein Problem mit Flüchtlingen hätten, macht es auch nicht besser. Glorias Mutter macht sich Sorgen, dass ihre Tochter als schwarze Frau in Deutschland nicht akzeptiert werden könnte.
So begleitet der Film die vier Akteur*innen nach Deutschland, zwei nach Hamburg und zwei nach Kassel. Nach anfänglicher Euphorie und den vielen überraschenden neuen Eindrücken, gilt es zunächst den harten Winter in Deutschland zu überstehen. Dabei sind kleine Alltagsutensilien Überlebenshelfer: Wärmflasche und Handschuhe, mehrere Schichten Kleidung und Glühwein. Christian (28 J.) aus Kamerun ist verwundert, als er das Klinikum in Kassel, in dem er arbeiten wird, das erste Mal aufsucht. Das Eingangsgebäude erinnert ihn mehr an eine Bank als an ein Krankenhaus. Von seinem lang erwarteten Job ist er zunächst ein wenig enttäuscht. Als Experte für Abfallwirtschaft und Mülltrennung hat er sich eine Betätigung eher in diesem Bereich erhofft, muss sich nun aber mit einfachen Transporttätigkeiten begnügen. Durch seine Arbeit gelingt es ihm allerdings, viele Kontakte zu knüpfen und die deutsche Sprache zu erlernen.
Mit Höhen und Tiefen, Erfahrungen von Freude und Heimweh und leider auch mehr oder weniger subtilem Rassismus gelingt es den vier Freiwilligen ihr Jahr in Deutschland mit vielen guten Lernerfahrungen zu überstehen. Der Film begleitet sie in dieser Zeit feinfühlig, zeigt ihre Wünsche und Bedürfnisse, Sorgen und Nöte, lässt Nachdenklichkeit zu und fängt manche Alltagssituation mit warmem Humor ein. Die Veränderungen und Entwicklungen, die sich während des Jahres vollziehen, sind spürbar und nachvollziehbar. Für uns Zuschauer*innen ein persönlich berührendes Kinoerlebnis!
Ein besonderes Highlight war die Anwesenheit des Regisseurs und eines Akteurs während der Vorführung. Beide standen den Studierenden der Fachschule für ein ausgiebiges Filmnachgespräch zur Verfügung. Christian aus Kamerun erzählte, dass er wieder nach Kassel zurückgekehrt wäre, um dort ein Studium der Ingenieurswissenschaften aufzunehmen. Seine deutsche Sprachfähigkeit hatte sich drastisch verbessert. Die Studierenden, teilweise selbst daran interessiert, später in der Ausbildung oder danach eine Zeitlang im Ausland zu verbringen, zeigten sich überrascht, dass auch junge Leute im Globalen Süden, die nicht aus wohlhabenden Verhältnissen kommen, die Möglichkeit haben, ein solches Auslandsjahr zu absolvieren. Erwartungen und Ängste seien offenbar ganz ähnlich. Allerdings seien Deutsche nach der Schule wohl oft unerfahrener als die gutausgebildeten, fertigstudierten jungen Leute, die nach Deutschland kämen. Den beiden Gästen wurde am Ende des Gesprächs mit viel Applaus gedankt und vor allem Christian aus Kamerun bekam viele gute Wünsche mit auf den Weg für seine weitere Zeit in Kassel.
„One Year in Germany - Ein Freiwilligendienst in Deutschland“ (2018) – ein Film von Christian Weinert und Ferdinand Carrière:

 Text: Jörg Rustmeier